Prekäre Choreografien
Winfried Gerling, Fabian Goppelsröder
ZeM Zwiegespräche
„Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ Was aber ist der Fall? Lässt er sich abbilden, fotografieren? Ist er schlicht unbezweifelbares Faktum, Tatsache, Gewissheit? Oder lässt er als Sturz gerade diese Sicherheiten unsicher und prekär erscheinen?
Die Bildgeschichte des Fallens ist noch kurz. Erst mit der Fotografie wird jene eigentümliche Verschränkung von Determination und Freiheit eigentlich zum Sujet. Und erst der mediale Eigensinn der Chronofotografie lässt die Komplexität des Vorgangs sichtbar werden.
Dagegen reicht seine Geschichte als Denkfigur bis zur Erzählung über die Vertreibung aus dem Paradies zurück. Heinrich von Kleist sieht den Fall als Zeichen der „gebrechlichen Einrichtung der Welt“ überhaupt. Stück für Stück entwickelt sich das permanente Fallen vom Lapsus zur conditio humana. Der Mensch, die Welt ist alles, was im Fall ist. In einer Zeit, in der die GoPro den Kick des Stürzens in Netzvideos multipliziert, verliert alles Verlässliche, Stabile seinen Reiz. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist der Fall zum Signum einer ganzen Kultur geworden.
Die Reihe „Zwiegespräche“ des Brandenburgischen Zentrums für Medienwissenschaften ZeM ist den vielfältigen Formen und Methoden medienwissenschaftlicher Forschung und Wissensproduktion gewidmet. Als intensiver Dialog zweier AutorInnen moduliert jeder einzelne Band einen Begriff, eine Fragestellung, ein Phänomen oder Ereignis im Raum seiner Assoziationen. Statt schlicht zwei Arbeiten zu einem Thema lose miteinander zu verbinden, soll ein sich gegenseitig anstiftender, inspirierender und infizierender Austausch entstehen. Durch die graphische wie inhaltliche Verschränkung der Beiträge, den gemeinsamen Fußnotenapparat und die durchgängige Reihe an Bildern als weiterer Ebene der Argumentation wurde mit „Zwiegespräche“ eine eigene, die besondere Bezugnahme tragende Form gefunden. „Was der Fall ist … Prekäre Choreographien“, entstanden in Zusammenarbeit mit Merle Ibach und Hans Kannewitz, ist der erste Band der Reihe, mit dem das Format konzeptuell entwickelt wurde.
Dieser Band ist bei media/rep/ in Open Access verfügbar.
Für das Review Journal KULT_online hat Ruben Pfizenmaier das Buch von Winfried Gerling und Fabian Goppelsröder besprochen: „Nach knapp 40 Seiten: dieses Gespräch ist voller Ideen und Einfälle, die Assoziationen folgen dennoch so klar geordnet wie Perlen auf einer Schnur. Verweise und Referenzen sind kein Selbstzweck, mehr Sprossen einer Leiter als Treibstoff oder Schmiermittel. Fäden beginnen und enden, Gedankengänge werden begleitet und wieder losgelassen, ohne dass je die grundlegende Bewegung unterbrochen würde.“ Der gesamte Text kann auf KULT_online 55/2018 (PDF) nachgelesen werden. Quelle: Ruben Pfizenmaier, „Und alles taumelt, tänzelt, stürzt. Fallen im interdisziplinären Dialog“, KULT_online. Review Journal for the Study of Culture, issue 55, August 2018.
Winfried Gerling (Prof.) ist Professor für Konzeption und Ästhetik der Neuen Medien in der Europäischen Medienwissenschaft, eine Kooperation der Fachhochschule Potsdam und der Universität Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorie und Praxis fotografischer Medien, Digitalität und mediale Environments. Weitere Informationen: http://gerling.emw-potsdam.de.
Winfried Gerling is Professor for Concepts and Aesthetics of New Media in the European Media Studies program of the Potsdam University of Applied Sciences and the University of Potsdam. His research focuses on the practical and theoretical reflection of photographic media, digital aesthetics, media environments and media art. More information: http://gerling.emw-potsdam.de.
Fabian Goppelsröder (Dr.) ist Feodor Lynen Fellow der Alexander-von-Humboldt-Stiftung am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin. Zuvor arbeitete er u.a. am Department of Germanic Studies der University of Chicago. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Ästhetik, der Poetik und der Medienphilosophie.