Günther Anders unterhielt zeit seines Lebens ein kompliziertes Verhältnis zu akademischen Disziplinen und Institutionen. Während seine hochengagierte Publizistik und sein umweltpolitischer Aktivismus eine weitreichende Ausstrahlung entfalteten, verhinderten sie auf der anderen Seite über lange Zeit eine ernsthafte wissenschaftliche und philosophische Rezeption. Dies ändert sich nun seit einigen Jahren erheblich. Inzwischen sind einige Dissertationen erschienen, die sich mit bestimmten Aspekten von Günther Anders‘ Werk beschäftigen, zudem sind derzeit mehrere Anders gewidmete Konferenzen in Planung.
Anders wird zunehmend von renommierten internationalen Forscher*innen zitiert. Die Zahl der Übersetzungen seiner Texte ins Englische, Französische, Spanische, Norwegische oder Türkische nimmt stetig zu. Die Klimakatastrophe sowie die neu entflammten Ängste vor einem mit Atomwaffen ausgefochtenen Krieg haben seinem Denken wieder die Aktualität zurückerstattet, die ihm im Zeitalter des Neoliberalismus vielfach abgesprochen wurde.
Seit Anfang 2022 setzt sich der Arbeitskreis „Günther Anders und die Medienwissenschaften“ mit dem Werk und seiner Rezeption auseinander. Schwerpunkte bilden hierbei zunächst methodologische Fragen: Was tut Anders in seinen Texten eigentlich? Welche rhetorischen, narratologischen, literarischen und strategischen Einsätze lassen sich ausmachen? Und wie steht es um die mögliche Anwendbarkeit seiner Verfahren für gegenwärtige Interventionen? Diese methodologischen Fragen grenzen bereits an diejenigen bezüglich der Übersetzbarkeit von Anders‘ Texten. Der Arbeitskreis dient auch zum Austausch über laufende Übersetzungsprojekte wie etwa die bevorstehende Erstveröffentlichung der englischen Ausgabe von Die Antiquiertheit des Menschen I.
Ein besonderer Schwerpunkt wird zudem auf der Frage liegen, was sich aus dem Werk und dem Wirken von Günther Anders für das Denken im Anthropozän lernen lässt. Sein Weg führte ihn zur Ausgestaltung eines eigenen Stils, einer eigenen Erzähl- und Übertreibungskunst. Damit wollte er eine für die Realität der technogenen Selbstzerstörung der Menschheit angemessene Sensibilität evozieren. Heute ist diese Lage zugleich noch schlimmer wie auch paradoxer geworden. Inwieweit taugt Anders noch als Vordenker im Ringen um eine adäquate Haltung zu unseren techno-medialen Umwelten? Inwiefern eignet er sich als Gefährte in der Auseinandersetzung mit dem Leben im Zeichen der „Frist“, der noch nicht eingetretenen, aber immer wahrscheinlicher werdenden globalen Katastrophe? Welche medialen Strategien eignen sich dazu, sich auf ein dermaßen „überschwelliges“ Ereignis vorzubereiten?
Der Arbeitskreis dient derzeit in erster Linie dem konzentrierten Austausch von Anders-Forscher*innen im geschlossenen Format. Angedacht ist zudem die Planung eines deutsch- und englischsprachigen Workshops, der voraussichtlich im Herbst 2023 stattfinden soll.
Der Arbeitskreis ist eine gemeinsame Initiative von Dr. Bernd Bösel (Brandenburgisches Zentrum für Medienwissenschaften, Potsdam), Dr. Christian Dries (Internationale Günther Anders-Gesellschaft, Wien) und Dr. Christopher J. Müller (Macquarie University, Sydney). Derzeitige Mitglieder: Dr. Benjamin Nickl (University of Sydney), Manuela Koelke (Freie Übersetzerin, Autorin und Architektin) u.e.a.